2022.09.28 PATRICK BAHNERS
DAVID SALLE UND JANET MALCOLM:Nr. 42
Der Maler David Salle war ein Star der Postmoderne. Heute ist er hauptsächlich deshalb noch bekannt, weil Janet Malcolm ihn 1994 im „New Yorker“ unter der Überschrift „41 Fehlstarts“ porträtierte. Jetzt wird er 70 Jahre alt. Wie hat er diesen Ruhm überlebt?
Der Artikel von Janet Malcolm über den Künstler David Salle, den der „New Yorker“ in seiner Ausgabe vom 11. Juli 1994 druckte, glich bei näherem Hinsehen einer Geburtstagstorte. „Forty-One False Starts“ („Einundvierzig Fehlstarts“) steht über dem Text, und im letzten Viertel des Textes fällt dann auch die Zahl, die man sich aus den biographischen Angaben selbst hätte errechnen können: „David Salle ist ein schmaler, schöner Mann von einundvierzig Jahren“ – er hatte zum Zeitpunkt der Publikation von Malcolms Porträt genau so viele Lebensjahre hinter sich, wie der Artikel nummerierte Abschnitte hat.
Alle Kerzen auf der Torte, alle Lichter, die Malcolm dem Leser aufsteckt, um das Werk von David Salle zu erhellen, bläst die Autorin genüsslich wieder aus. Sie setzt ihren Gegenstand als den prototypischen enigmatischen Künstler in Szene, dem aus einer einzigen, unverwandt durchgehaltenen Perspektive nicht beizukommen ist. Malcolms Technik des wiederholten Neuansatzes ist eine ostentative, spielerische Hommage an die Methode von David Salle, der damals einer der berühmtesten Maler der Postmoderne war. Er collagierte abgekupferte Altmeisterfiguren mit indiskreten Ausrissen aus Zeitschriften – wie Malcolm lange Zitate aus Interviews, die Vorläufer von ihr mit Salle geführt hatten, in ihr Werk montiert.
Über zwei Jahre besuchte sie Salle in seinem Atelier, um Gespräche mit ihm zu führen. An einer zentralen Stelle des Essays vergleicht sie diese Interviews mit Porträtsitzungen. Damit legt sie offen, dass sie den seit der Renaissance ausgetragenen Wettkampf zwischen der schreibenden und der bildenden Kunst fortsetzt. Sie vollzieht einen Rollentausch, und gleichzeitig kippen die Machtverhältnisse. Später berichtet sie darüber, wie sie mit Salle eine Ausstellung des Malers Lucian Freud besuchte. Freud war berüchtigt für die Zahl und Dauer seiner Porträtsitzungen; er traktierte seine menschlichen Sujets bis zu deren absoluter Erschöpfung.
Die Fülle raffinierter Details in Malcolms Komposition lässt beim Leser die Überzeugung wachsen, dass an den einundvierzig „false starts“ nichts Falsches ist: Alles passt und sitzt und trifft. Und es drängt sich der Verdacht auf, der wahre Fehlstart sei die Erfolgskarriere David Salles, den Malcolm immer wieder die böse Ahnung äußern lässt, die Jugend wolle nichts mehr von ihm wissen und er sei schon passé.
Malcolms Essay gehört zum Kanon der Kurse für kreatives Schreiben wie der Kunsthochschulen. Mehr Kunstfreunde dürften den vormaligen Malerstar heute aus dieser Beschreibung kennen als aus seinem auch nach 1994 weiter gewachsenen Œuvre. In der Literatur zur biografischen Kunst und zur journalistischen Ethik steht Janet Malcolm für eine Extremposition der brutal zudringlichen Stilisierung. Aber als sie am 16. Juni 2021 mit sechsundachtzig Jahren starb, widmete David Salle ihr im „Artforum“ einen Nachruf, in dem er von der Freundschaft erzählte, die sich nach dem Artikel zwischen ihnen entspann, „ohne die Rollen“.
Sie ermutigte ihn, Kritiken für die „New York Review of Books“ zu schreiben, und von Zeit zu Zeit nimmt er sich ihr Porträt wieder vor und findet sich mal schlechter, mal besser getroffen. Wie es scheint, verdankt der mit einundvierzig Jahren von seiner Vergänglichkeit besessene Künstler David Salle, der heute seinen siebzigsten Geburtstag feiert, Janet Malcolm eine zweite Jugend, in der er ewig zweiundvierzig Jahre alt bleibt.